Gestern noch

Ein künstlerischer Austausch zwischen Melika Moazeni und Adrian Lauschke über “Bloody November” 

Auf europäischen Kalendern stand der 18te November 2019. Auf iranischen das Jahr 1398 der Monat Aban, es war der Fünftzehnte. Am 16ten wurde das Internet im ganzen Land abgeschaltet. Gestern noch habe ich mit ihnen gesprochen. Ich hatte mich mit ihm gestritten –es war keine große Sache, meinte meine Mutter nur eine Stunde später. Drei Jahre später sollte sich auch im Rest der Welt der Name „Bloody Novembre“ durchsetzen.

Benzin ist ein Gemisch aus leichtsiedenden Kohlewasserstoffen und Produkt eines Trennverfahrens, das durch fraktionierte Destillation aus Erdöl gewonnen wird. Bei der fraktionierten Destillation von Erdöl werden die unterschiedlichen Siedetemperaturen der zu gewinnenden Stoffe: Ethan, Methan, Kerosin, Heizöl oder auch Benzin, genutzt, um sie voneinander zu trennen. Um ein reines Destillat zu erhalten, wird mehrstufig destilliert. Entschwefelt wird Benzin durch die Abspaltung von Sulfidgruppen. Benzin dient in erster Linie als Brenn- und Treibstoff, wird aber auch als Lösungsmittel verwendet. Von seiner etymologischen Herkunft ist für Laien phonetisch kein nachvollziehbarer Rest geblieben – seine Spuren sind verwaschen: Das katalanische benjuí geht angeblich auf das arabische lubān ǧāwī„javanischer Weihrauch“ zurück.

Schon vor den Ereignissen um den November 2019 verließen viele Iraner*innen ihre Heimat. Selbst, wenn mit ihr die Hoffnung auf ein besseres Leben verbunden ist, bedeutet Migration Lösung, Trennung, Spaltung, Abspaltung, Schmerz.

Denn, wer migriert befindet sich nicht einfach an einem Ort, der nicht sein Zuhause ist. Das Verb „befinden“ beschreibt den Zustand nicht, der mit der Migration einhergeht. Es ist in diesem Zusammenhang ein zumindest unbedachter Euphemismus. Denn weit davon entfernt, sich irgendwo wieder zu finden, ist der Migrant eher verloren. Das Wort verlieren kommt von los und lösen: abschneiden, trennen. Die Verlorenheit des Migranten besteht in einer Ablösung, in Auflösung, Abgeschnittenheit, Trennung. Doch wovon?
Losgerissen ist er von seinen Wurzeln: seiner Familie, Freunden, Geliebten, seiner Heimat. Heimat, das sind neben seinen Liebsten, die Düfte, Farben und Klänge, Klangfarben, Aromen, die diesem Menschen einst das Gefühl gaben, an einem Ort wenigstens nicht falsch zu sein.
Zuvor wurden sie von ihm wahrgenommen, dabei aber möglicherweise nicht einmal als das erkannt, was seine Heimat ausmachte. Heute sind sie die Spuren seiner Vergangenheit. Von seinen Liebsten wie von allem, was Heimat ausmachte, ist er hier, wo er nun lebt, abgeschnitten, abgerissen, gelöst: Er ist verloren. Wo?
Ist er an diesem Ort, an dem er nun ist weilt? existiert(?) und an dem er eine neue Heimat sucht, verloren? Ja, doch kehrt er Heim, so erkennt er die Düfte, die Geschmäcker und die Menschen; er erkennt, dass sie seine Heimat waren und er nun keine mehr hat. Also ist er auch hier verloren und nicht nur an jenem neuen Ort. Er kann den Spuren nicht mehr folgen, um zurückzufinden. Sein Seinszustand ist der der Auflösung, des Verlieren; des Los- lösens.
Er verliert den Halt in der Welt und die Welt ihren Halt, sie verschwimmt und zerfließt. Aus dem Trennverfahren hervorgegangen trennen sich die Teilchen der Welt in unbestimmbare Fragmente, wenn er sie berührt. Er ist Benzin.

Der migrierte Mensch ist nicht nur getrennt und abgelöst, für ihn löst sich alles auf – inclusive seiner Selbst. Er ist ein Hort an tief verwurzelten Erinnerungen und jungfräulichen Eindrücken, ein Hort der Farbenvielfalt, voll von Gefühlen und Aromen seiner Heimat, die mit den Farben und Eindrücken des neuen Landes überschwemmt werden… und dann mit Benzin übergossen. Dieses Übermaß an Farbenvielfalt läuft immer Gefahr zu einem kargen Grau-Braun zu vermischen.