Ausstellungstext für Sag Mama Nichts                                                                                        Ehemaliges Polizeigefängnis Klapperfeld in Frankfurt am Main 2025

Jemand hat das Ausstellungsposter von der Tür abgerissen. Eine kleine Geste, und doch ein Ereignis, das in den Raum der Ausstellung hineinwirkt. Es ist nicht bloß Zerstörung, sondern eine Handlung im Spiel der Macht. Michel Foucault hat gezeigt, dass Macht kein Besitz ist, keine zentrale Instanz, sondern eine Bewegung. Sie entsteht in den kleinsten Gesten, in Blicken, Verboten, Einladungen. Das Abreißen des Plakats bestätigt diese Zirkulation, es löscht aus und verstärkt zugleich. Was geschieht in einem Körper, der sich traut, ein Plakat herunterzureißen. Hier zeigt sich, was Judith Butler Performativität nennt. Handlungen erzeugen Wirklichkeiten. Sie sind nicht nur Ausdruck, sondern Formung. Das Abreißen ist eine Verweigerung der Sichtbarkeit und gleichzeitig eine unübersehbare Markierung. Die Ausstellung selbst verweist auf Menschen, die verschwinden müssen. Auf Existenzen, die aus dem Sichtbaren gestrichen und aus dem Zählbaren entfernt werden. Giorgio Agamben beschreibt dieses paradoxe Leben als Homo Sacer, ein Leben, das getötet, aber nicht geopfert werden darf. Ein Leben, das der Sphäre des Rechts entzogen und dadurch vollständig der Gewalt der Macht ausgeliefert ist. „Sag Mama nichts“ – dieser Satz, gesprochen von Mehdi Karmi vor seiner Hinrichtung im Iran, trägt die gesamte Wucht politischer Gewalt. Es ist keine bloße Bitte um Schonung, sondern ein letztes Echo eines Lebens, das ausgelöscht werden soll. Und zugleich öffnet sich darin eine andere Ebene, eine Begegnung zwischen Raum und Körper. Es erinnert daran, was geschieht, wenn Räume aufhören, Schutz zu gewähren. Wenn Mauern, Straßen, Zellen oder sogar Sprache nicht mehr bergen, sondern preisgeben, wenn sie sich von Orten des Lebens in Orte der Bedrohung und schließlich der Vernichtung verwandeln. Wie viele Mütter haben in ihren Körpern die Echos dieser Gewalt bewahrt. Wie viele Generationen sind gezeichnet von dem, was Hannah Arendt die Banalität des Bösen nannte, jenes lautlose Funktionieren einer Ordnung, die nicht zuhört, weil sie nicht zuhören will. Wir sind Archive solcher Erfahrungen. Foucault betont, dass Macht nicht nur äußerer Zwang ist, sondern sich einschreibt. Sie hinterlässt Spuren im Gedächtnis, im Trauma, im kollektiven Körper. Macht zirkuliert. Sie endet nicht, weil sie immer neu hervorgebracht wird, durch Institutionen, aber auch durch Körper, die ihr ausweichen oder sie fortsetzen. Selbst das Abreißen eines Plakats wird Teil davon. Es verweigert und bezeugt zugleich, ein Widerstand, der der Macht begegnet und sie damit sichtbar macht. Vielleicht liegt die unauflösbare Wahrheit darin, dass wir der Macht nicht entkommen. Doch wir können ihre Zirkulation sichtbar machen, sie unterbrechen, sie ins Stolpern bringen. So wird sogar die Geste des Abreißens zur Arbeit der Ausstellung selbst.

© Melika Moazeni 2025

 

Michel Foucault, Überwachen und Strafen (1975), Der Wille zum Wissen (1976) // Michel Foucault, Von anderen Räumen (Vortrag 1967, veröffentlicht 1984) // Judith Butler, Körper von Gewicht (1993), Precarious Life (2004), Frames of War (2009) // Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (1995) // Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (1963)

Polizeigefängnis Klapperfeld Frankfurt am Main 2025
Ehemaliges Polizeigefängnis Klapperfeld und Spiegelung des Hauptgerichts auf einem Polizeiauto, Frankfurt am Main. Foto @goschchristopher
Dasein ohne Sein 2025 Gips, Haare, Eisen . Foto @goschchristopher
20 Minuten wahrträumen, 2025, Vorhang, Quick Time-Film 1:48 Min.
One Drop of Water 2025 Wasser, Kissen, Kette, Megaphone, Sound. Foto @goschchristopher